Kapitel 1



“Mir reicht es Liv!” Achim Peterson schaute seine Tochter mit strengen Blick an. Während er dies tat versuchte er in ihr sein kleines Mädchen zu finden. Das kleine Mädchen, welches sich ein halbes Jahr nur von grünen Sachen ernährt hatte, jenes Mädchen das ihm zum Vatertag einen eigenen Regenwurm Namens ‚Gustav‘ schenkte. „Du schwänzt die Schule, du sagst nie wo du bist, bringst schlechte Noten nach Hause.“ Seine Augen ließen von seiner Tochter ab und er schaute sich hilflos um. „Liv, was soll ich nur mit dir machen?“ Erschöpft drang die Frage über seine Lippen. „Du warst doch früher nicht so“ Nun sammelten sich Tränen in den Augen seiner Tochter. Achim bemerkt es und er bemerkte auch, wie sie verzweifelt versuchte, diese zurück zu halten. Bloß keine Schwäche zeigen, dass war in letzter Zeit Livs Motto geworden. Sie wollte unverwundbar sein.  „Früher gab es auch Mum“ Die Stimme seiner eigenen Tochter wirkte fremd auf ihn und ihre Worte schmerzten ihn sehr. Der Tod von Annabell war 3 Monate her. Mit ihr starb nicht nur eine geliebte Mutter, sondern auch eine geschätzte Mutter und Liv gibt ihm die Schuld an ihrem Tod. „Wärst du nicht da, dann würde sie noch leben.“ Mit diesen Worten stürmte sie aus der gemeinsamen Wohnung, das triste Treppenhaus hinunter, raus in den Regen.
Die Tropfen auf ihrer Haut und Kleidung störten Liv wenig, sie wollte einfach nur weg. Weg von der Wohnung, wo ihre Mutter immer noch unter ihnen weilte. Es roch nach ihr, im Flur standen ihre Schuhe und ihr letztes Werk stand unverändert auf der Staffelei, als würde sie jeden Augenblick wiederkommen. Doch sie würde nie wiederkommen. Nie wieder würde Liv ihre braunen Haare in der Sonne glänzen sehen. Nie wieder würde sie ihr Lachen hören. Nie wieder mit ihr Streiten. Im Laufschritt zog sie eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche und zündete sich eine an. Obwohl der Rauch im Hals kratze, entspannte er sie und, trotz des Hustens, ging es ihr mit jedem Zug besser. Ihre Mutter war nicht mehr da, um es ihr zu verbieten. 

Liv hatte keine Ahnung wo sie hinlief. In ihr wollte alles nur weiter weg. Immer weiter weg. Häuser zogen an ihr vorbei und der Regen wurde schwächer. Das interessierte sie nicht. Sie war eh schon durchnässt und würde sich bestimmt erkälten.
Zeit spielte keine Rolle mehr und Liv hatte kein Gefühl dafür, wie lange sie schon unterwegs war, als sich vor ihr die ersten Geschäfte abzeichneten. Schlagartig wurde ihr klar wo sie hinlief. Alles in ihr sträubte sich, aber ihre Füße trugen sie immer weiter. Immer weiter in die Vergangenheit und näher zu ihrer Mutter, denn es war das Fachgeschäft für Malerei, vor dem sie stehen blieb. Leinwände und verschiedene Farben standen im Schaufenster und in der Tür hing das ‚geöffnet‘ Schild und ehe Liv wusste wie ihr geschah, trat sie durch die moderne Glastür. Ein helles Bimmeln kündigte sie an und der graue Haarschopf von Frau Hagelkorn blickte hinter einem Regal hervor. „Ach du bist es Kind. Schau dich ruhig um, lass dir Zeit“ sagte die alte Dame und war gleich wieder hinter dem Regal verschwunden, um ihrer Arbeit nach zu gehen. Vorsichtig strich sie mit ihren Fingern über die Produkte und schluckte einen Kloß herunter.  Der Geruch in der Luft, erinnerte sie an die vielen Stunden, welche sie hier mit ihrer Mutter verbracht hatte. Immer auf der Suche nach etwas, das ihren Bildern noch fehlt oder Besorgungen die erledigt werden mussten, ehe sie ein neues Stück erschaffen konnte.
Hinter in der hintersten Ecke des kleinen Ladens stand ein Spiegel. Er stand dort schon genau so lange, wie Liv und ihre Mutter den Laden besuchten und das war eine Ewigkeit, zumindest für Liv. Auf dem Boden stehend, weil er zu schwer zum Aufhängen ist, und an der Wand angelehnt. Der Rahmen besteht aus kunstvoll verziertem Holz. An einigen Farben war der dunkle Lack abgeplatzt und hier enthüllte sich die wahre, hellere Farbe des Holzes. Liv liebte diesen Spiegel, einen wie ihn hatte sie noch nirgendwo anders gesehen und später wollte sie genau so einen ihn ihrer Wohnung haben.
„Liv? In zehn Minuten schließe ich ab.“ Frau Hagelkorn legte ihre Hand auf Livs Schulter und blickte das junge Mädchen ab. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab und sie fuhr erschrocken zusammen. Wie von weit weg blickte Liv Frau Hagelkorn an und nickt dann. Ihr wurde bewusst, dass sie nicht wusste, wie lange sie schon vor diesem Spiegel stand. Draußen war es schon dunkel geworden. Ein helles Bimmeln kündigte einen neuen Kunden an. 

„Guten Abend Herr Weishof“ Frau Hagelkorn kam zwischen den Regalen hervor um den neuen Kunden zu begrüßen. Liv verdreht die Augen. Auch das noch ihr Mathelehrer in einem Laden für Kunstbedarf. Auf ein Treffen mit ihm war Liv nicht besonders scharf und sie blickte sich panisch im Raum um und überlegt, wie sie ihm aus dem Weg gehen könnte, denn sie würde ihm nicht ihr Fehlen in der letzten Zeit erklären können. Kurz nachdem ihre Mutter gestorben war, hatten die Lehrer noch Verständnis für sie und ihre Situation, doch nun interessierte es niemanden mehr, dass sie Halbwaise war. „Guten Abend Frau Hagelkorn, bleiben sie wo sie sind. Ich brauche für meine Frau nur neue Pinsel. Sie hat nämlich morgen Geburtstag. Ich weiß wo die sind.“  Ein leises Stöhnen entfuhr Liv, selbstverständlich befanden sich die Pinsel genau in der Ecke mit dem Spiegel und eine Möglichkeit sich zu verstecken hatte sie immer noch nicht gefunden. Ihre letzte Hoffnung war es den schweren Spiegel zubewegen und auf eine kleine Nische hinter ihm zu hoffen. Sie war nicht sonderlich groß und auch ziemlich sportlich gebaut. Eine kleine Nische würde ihre Rettung darstellen. Sie könnte sich vor Herr Weishof und dem Rest der Welt einen Moment lang verstecken. Mehr wollte sie nicht.

Die schweren Schritte des großen Mannes kamen näher und Liv beschloss es einfach zu versuchen. Sie drehte sich zum Spiegel und betrachtete ihn ganz kurz „Bitte lieber Spiegel“ flüstere sie und dann huschte sie los. Doch Liv hatte nicht mit ihrer Tollpatschigkeit gerechnet, wie immer in wichtigen Situationen, kam diese um es Liv noch schwerer zu machen. Sie stolperte in der Aufregung über ihre eigenen Füße. Wie in Zeitlupe sah Liv sich auf den Spiegel zu fliegen und sie wusste genau was passieren würde.
Sie würde mit dem Oberkörper zuerst den Spiegel treffen und ihn in ihrem Gewicht zerstören. Das zerspringende Glas würde einen Höllenkrach machen und die Aufmerksamkeit von allen Anwesenden auf sich ziehen. Frau Hagelkorn wäre sauer und ihr Vater würde kommen. Dieser Mann würde dann von ihr verlangen, dass sie den Spiegel bezahlte und bei Livs Glück würde Herr Weishof noch bleiben und ihrem Vater von ihren Fehlstunden erzählen. Das alles sah Liv auf sich zu kommen, während sie fiel. Um ihr Gesicht vor den Scherben zu schützen und um ihren Sturz hoffentlich abzufangen, strecke Liv die Arme instinktiv nach vorne. 

Doch entgegen ihrer Erwartung und Erfahrungen trafen ihre Hände nicht auf die kalte, glatte Oberfläche des Spiegels, sondern sie schienen durch den Spiegel hindurch zu gleiten. Die Luft hinter dem Spiegel fühlte sich warm an und Liv hatte durch das Fallen soviel Schwung, dass es ihr unmöglich war anzuhalten. So konnte sie nichts dagegen tun, als erst ihr Kopf und dann ihr Körper durch die Oberfläche des Spiegels glitten.

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